Sein und Schein

Mensch, werde wesentlich,
Denn wenn die Welt vergeht,
Verschwindet aller Schein,
Das Wesen nur besteht!

 Diese Worte des schlesischen Konvertiten, Dichters und Priesters Angelus Silesius (1624 -1677) drücken kurz und prägnant das aus, worum es im ganzen Leben geht, besonders jetzt wieder in der Fastenzeit. Es handelt sich um den Aufruf der Wahrheit, also um das zentrale Thema des christlichen, auf die Gottesliebe hin orientierten, Lebens. Der Ruf nach dem Wesentlichen, nach der Überwindung des bloßen Scheines durch die Wahrheit des Seins, ist der Ruf Gottes selbst, des Heiligen Geistes, der die Wahrheit und das Leben ist und auch uns das Leben in der Wahrheit schenken will.
Ohne Gott zerrinnt das Leben, kennt weder Ziel noch Sinn. Vieles scheint zwar auch dann noch möglich, aber es bleibt ohne Wert und ohne Bedeutung. Die Existenzphilosophen des 20. Jahrhunderts, aber auch viele andere, wie Nietzsche oder auch viele Zeitgenossen unserer Tage, machen uns in erschreckender Weise klar, was es heißt, ein Leben ohne das Licht des Glaubens zu führen. Wo der Mensch die Sonne der Liebe Gottes nicht mehr kennt oder nicht mehr anerkennt, da erstickt und verwest alles wahre Leben in Leere und in Dunkelheit des Geistes, noch bevor der Leib, der uns ja auch von Gott als Auf-Gabe für einen höheren Sinn gegeben, seine natürlichen Lebensvorgänge aufgibt.
Niemand kann uns aus dieser Finsternis befreien, in welche der Mensch durch die Folgen der Erbsünde geraten ist, als nur Gott allein. Seit  Adam und Eva sind wir alle versucht, uns vom wahren Schatz der Liebe Gottes, der uns aus Liebe und um der Liebe willen erschaffen hat, abzuwenden und uns durch die Vorspiegelungen des Vaters der Lügen das Leben und die klare Erkenntnis der Wahrheit rauben zu lassen.
Gott aber ist Liebe und Leben. Er will nicht den Tod, sondern Er sucht selbst noch das Herz des Sünders, damit dieser sich bekehre und lebe, wie uns schon das Alte Testament lehrt (vgl. Ez. 18,23). Und so lässt Er Sein Geschöpf, den Menschen, nicht allein. Er wird selbst ein Mensch, lebt mit uns Menschen, ja gibt Sein Leben dahin für uns. Er nimmt freiwillig das Leid auf sich, schweres, unvorstellbares Leiden bis hin zum furchtbaren Tod am Kreuz. Er bleibt nicht jenseitig, fern und erhaben über alles Leid, sondern Er teilt mit uns freiwillig die Folgen der Sünden, unserer Sünden, um durch Seine vollkommene Liebe alle Bosheit der Welt wieder gut zu machen, den Sieg über alles Böse zu erringen und uns so das Tor zurück zum Leben und zur Liebe zu öffnen! Welcher Mensch hätte sich diese Liebe Gottes und diesen Weg Seiner Gnade, die Er uns schenken will, je vorstellen können?
Ohne diesen Sieg über Sünde und Tod gibt es keine wirkliche, endgültige, Frohbotschaft für uns Menschen. Ohne Jesus Christus bliebe alles und jeder gefangen in einer Welt des Bösen, des Todes und ohne Sinn.
In der Nachfolge Jesu aber treten wir ein in die Welt, wie Gott sie gewollt hat und wie Er sie uns auch selbst schenkt: wir erhalten durch Seine unendliche Gnade Anteil an Seinem Reich und an Seiner Herrlichkeit. Wir sind berufen, Tod und Teufel zu überwinden, nicht nur in einem Scheinsieg, sondern in einem neuen Leben, das Christus uns schenkt.
Nicht erst im Jenseits, sondern auch schon hier und heute. Zwar noch unter den Vorzeichen der Folgen der Sünde und des Bösen, aber doch schon im Sieg über sie! Das Böse und der Tod sind nicht mehr unüberwindbar, wie sie nach dem Sündenfall für den Menschen erschienen sind.
Ja, noch mehr: Da, wo das Böse zu triumphieren scheint, wie beim Tod Jesu am Kreuz, wird es durch das Opfer der Liebe Jesu, mit der sich auch alle unsere Opfer vereinigen sollen und dürfen, erst recht überwunden. In der Liebe Christi werden so selbst noch die Angriffe des Bösen eine Möglichkeit der Vervollkommnung des Guten und damit des höchsten Triumphes über alles Böse, und eine neue Schöpfung erscheint!
Freilich, wegen der Bosheit und der Sünden kostet ein solcher Sieg Opfer und liebendes Leiden. Doch gerade in der Möglichkeit, das Leid in Liebe zu tragen, die wir nur in der Liebe Jesu Christi finden, wird selbst das schwerste Leid und die größte Bitternis noch eine Quelle der Hoffnung und des Segens.
Das gilt erst recht für alle scheinbare Macht, die das Böse selbst in der Kirche Jesu auf ihrer irdischen Pilgerschaft noch hat. Auch hier kommt  in der scheinbaren Schwachheit des Guten die Kraft Jesu Christi zur Geltung und zur Vollendung (vgl. 2Kor.12,9), und auch hier kann und soll selbst die äußerste Not - in der Liebe und Nachfolge Jesu Christi getragen - zum Segen und zum Heilmittel für den Sieg des Guten und für die Vollendung der Kirche in der Kraft des Heiligen Geistes werden!
Hier erweist das Kreuz Jesu Christi seine endgültige Erhabenheit und Wertfülle! Hier zeigt sich die unüberwindliche Kraft der Frohbotschaft Jesu Christi, die Licht, Heil und Leben ist!
Ohne die Liebe Jesu aber bleibt alles im Tode. Wie lebensnotwendig für jeden einzelnen Menschen ist deshalb die Antwort auf die Gnade im wahren Glauben und das Verlangen danach, dem wahren Gott in Liebe zu dienen, - welches nach der Lehre der Kirche als die so genannte Begierdetaufe selbst denen den Weg zum übernatürlichen Heil und Leben öffnen kann, welche die wahre Kirche und den wahren Glauben ohne eigenes Verschulden noch gar nicht ausdrücklich kennen!
Wie undankbar sind wir aber oft für die Liebe und Gnade Jesu Christi, wie oberflächlich in unserem Christsein, wie herzlos gegenüber jenen, die Christi Liebe noch nicht kennen und zu denen wir sie nicht bringen oder nicht bringen wollen!
Nicht umsonst ruft uns der Himmel immer wieder zur Umkehr und zur Buße, die auch nach dem Kommen Jesu für uns notwendig und wichtig bleiben, solange wir noch nicht in Seinem Reich des ewigen Lebens in Gott zur Vollendung gelangt sind!
Unser ganzes Leben ist bis dahin noch ein fortwährender, erbitterter  Kampf, in dem es um alles, um Leben oder Tod, um das eigentliche und wahre Sein, um die Liebe selbst, geht.
Wir machen uns den Ernst jedes Augenblicks unseres kurzen Lebens oft viel zu wenig bewusst. Wir tun so, als gäbe es keine höheren Werte als Lebensgenuss und einen oberflächlichen Alltagstrott, als wäre unser Herz in der Nacht des todesverfallenen Diesseits schon am Ende seines Wegs angelangt, als gäbe es kein wirkliches Leben und keinen Ausweg aus der Finsternis.
Wir suchen den Schein und hängen am Verweslichen, kümmern uns nicht um das Eigentliche, das Sein, das nur in Gott zu finden ist, leben so an der eigentlichen Wirklichkeit vorbei oder fliehen vor ihr. Atheismus und Materialismus begnügen sich mit einer halben Wahrheit, verweigern sich der letzten und höchsten Realität des Seins und verbauen so den Weg zu einem wahren und erfüllten Leben, münden in letzter Konsequenz in unüberwindlicher Widersprüchlichkeit, im Erlöschen allen Lebens und aller Realität.
Das Evangelium hingegen verschließt nicht den Zugang zur Wahrheit wie diejenigen, die es bekämpfen, sondern es öffnet für die Wahrheit in ihrer höchsten Vollkommenheit. Jesus Christus möchte uns in Seiner Liebe und Gnade stark machen für ein entschiedenes Leben in der Wahrheit und für die Wahrheit.
Auch die Vorbereitung auf das Osterfest soll uns der Liebe und dem Heil Jesu Christi näher bringen und verbinden. Fasten heißt, sich lossagen von allem, was uns vom wahren Leben trennt und abhält. In der Fastenzeit ruft uns die Kirche deshalb jedes Jahr wieder neu auf, mit allem Schein zu brechen, der letztlich Unwahrheit, Unfreiheit und Tod bedeutet, um uns wieder bewusst und mit Eifer dem wahren Sein zuzuwenden, dem Leben, das Gott selbst ist und das sich uns in der Liebe Christi gezeigt hat. Am Kreuz hat dem Schein nach das Böse triumphiert, doch das Sein der Güte Gottes hat in der Liebe Christi den letzten Sieg errungen. In Ihm bleiben auch wir siegreich in Glaube, Hoffnung und Liebe!
Was bleibt und was in Ewigkeit das Größte ist, weil es Gott selbst ist, das ist die Liebe (vgl. 1Kor. 13,13)! Sie hat Tod und Sünde besiegt und will auch unsere Antwort der Liebe, die den ewigen Ostermorgen auch für unser Leben in der Gnade Christi ermöglicht!
Christ ist erstanden wahrhaft vom Tod. Du Sieger, Du Heiland, hör’ unsere Not! Amen. Alleluja!

Thomas Ehrenberger

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